Vergeben und trotzdem nicht Vergessen

Ich möchte meinen Vortrag einleiten mit etwas, das Erinnerung heißt. Heute schreiben wir den 8. Mai und morgen den 9.Mai. An diesen Tagen vor 65 Jahren endete der Zweite Weltkrieg und am 9. Mai vor 20 Jahren fanden in Ungarn die ersten freien Parlamentswahlen nach der Wende statt. Daher feiert man in Ungarn zumindest einen doppelten Jahrestag: den des Endes des Zweiten Weltkriegs und den der ersten freien Wahlen.

Schweigen und Verschweigen

3 Hinweisen sollen auf das Thema hinführen: der erste ist ein Zitat des protestantischen Pfarrers Martin Niemöller. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat er folgendes gesagt: Als man die Kommunisten verhaftete, schwieg ich, weil ich kein Kommunist war. Als man die Mitglieder der Gewerkschaften verhaftet hat, schwieg ich, weil ich nie ein Mitglied der Gewerkschaften war. Als man die Sozialdemokraten verhaftet hat, schwieg ich, weil ich nie ein Sozialdemokrat war. Als man die Juden verschleppte, schwieg ich, weil eben kein Jude war und als man mich verhaftete, gab es niemanden, der dagegen protestiert hätte.

Beim zweiten Hinweis möchte ich mich auf Europa-Politiker berufen, da ich oft auf Tagungen und Konferenzen der Europäischen Union teilnahm. Dort hat man immer davon gesprochen, dass Europa der Kontinent der Aufklärung und des Christentums ist, Heimat des Fortschritts, Heimat der Freiheit ist. Keiner erwähnte auch nur ein einziges Mal, dass im 20. Jahrhundert Europa nicht durch Freiheit, Fortschritt und Aufklärung charakterisiert ist, sondern durch mehr als 30 Millionen Leichen, durch Menschen, die Konzentrations- und Internierungslager durchlitten haben und darin umgebracht wurden. Auch das ist Europa. Wenn wir von Europa nur im Sinne der Freiheit, der Aufklärung und des Fortschritts sprechen, dann vergessen wir jenes Europa, wie zwischen 1945 und 1989 aussah, dann wird über 44 Jahre Totalitarismus in Europa nicht gesprochen.

Wenn man glaubt, das kann nie wieder zurückkommen, dann möchte ich alle mahnen, dass etwas, das einmal passierte, immer wieder kommen kann. Wir leben in der Moderne, die sich durch die politische Bewusstseinsbildung oder Einbildungskraft charakterisieren lässt. Politische Einbildungskraft heißt, dass man sich alle möglichen politischen Einrichtungen und Institutionen vorstellen kann. Wenn man sich deren Existenz vorstellen kann, dann kann man dies auch verwirklichen. Niemand konnte sich die Existenz von Gaskammern vorstellen, dass man ganze Völker in Gaskammern in kürzester Zeit ver­nich­ten kann. Aber weil es Gaskammern gab, weil sie eben da waren, sind sie auch in unseren Köpfen, in unserem Gedächtnis und in unserer Einbildungskraft – und was schon einmal da war, lässt sich auch nochmals verwirklichen. Ein Beispiel soll das veranschaulichen: Ein italienischer Tourist wollte aus Amerika seine Heimatstadt besuchen. Er hatte aber zu wenig Geld um dorthin zu kommen. Daher entführte er ein Flugzeug um dorthin zu gelangen. Zwar war das eine private Angelegenheit, war aber schon in der Einbildungskraft. Seither haben die Terroristen diesen Präzedenzfall benützt, seither ist es aber natürlich auch nicht mehr so leicht ein Flugzeug zu entführen, weil die Sicherheitsmaßnahmen verschärft wurden. Man sieht, was Menschen schon vollbracht haben, kann durch Einbildungskraft wieder zum Leben erweckt werden.

Natürlich lässt sich über Europa nicht so einfach reden: Der Kontinent hat zwei politische Traditionen der Moderne, von denen die erste tatsächlich die Demokratie ist und die zweite die des Bonapartismus. Der Bonapartismus hat in Europa ebenso eine lebende Tradition wie die Demokratie. So etwas gibt es beispielsweise in den Vereinigten Staaten nicht. Ein Adolf Hitler, ein Josef Stalin – und über die Gegenwart spreche ich jetzt noch nicht – hätte ohne diese Tradition des Bonapartismus in Europa nie aufgetreten können. Von Bonapartismus spricht man, wenn Menschen einen Führer wünschen, brauchen oder glauben zu brauchen, der sie aus ihrem Schlamassel herausführt, weil sie es sich selbst nicht zutrauen.

Ein dritter Aspekt zum Thema „Erinnern – Vergeben – Vergessen“ besteht darin, dass mit den Begrifften „Gedächtnis“ und „Erinnerung“ zwei verschiedene Ereignisse verbunden sind. Bereits Hegel hat schon gezeigt, dass Erinnerung nicht nur Gedächtnis ist. Das deutsche Wort „Er-inner-ung“ zeigt, dass wir innerhalb einer Sache sind und nicht auf ihrer Oberfläche stehen. Gedächtnis kann im Gegensatz dazu oberflächlich sein. Erinnerung geht in das Innere, in das Wesen der Sache, hinein. Das heißt, wenn man sich erinnert, wird nicht nur das Gedächtnis bedient, sondern spielt auch Interpretation und Selektion mit. Wir lernen nicht nur etwas von der Vergangenheit, sondern Erinnerung ist die Vergegenwärtigung von Vergangenheit. Wenn wir uns erinnern, dann vergegenwärtigen wir uns Vergangenes. Was damals passierte, das passiert jetzt. Was mit denen passierte, das passiert mit uns. Erinnerung vergegenwärtigt immer, das, was einst passierte.

Wieso war Auschwitz möglich?

Wenn wir uns jetzt der totalitären Regime und ihrer Sünde erinnern, dann müssen wir uns immer auch zwei verschieden Fragen stellen. Die eine Frage betrifft die Geschichte, die andere die menschliche Natur. Die erste Frage lautet: Wie sind solche gesellschaftliche Übel möglich, wie die Massenmorde in diesem Ausmaß und in dieser Art? Wie sind solche gesellschaftliche Formen und politische Einrichtungen möglich? Das sind historische Fragen. Wenn man diese Fragen beantwortet, beantwortet man noch nicht, wie Auschwitz oder der Gulag möglich sein konnten, weil dazu auch die Beantwortung der zweiten Fragen notwendig ist. Es gibt nur eine Antwort auf die Absicht, warum solche Taten möglich sein können. Diese Antwort hängt immer von den gesellschaftlichen und politischen Systemen ab. Ohne totalitäre Regime hätte es kein Auschwitz und keinen Gulag gegeben. Aber weder der Sowjet-Totalitarismus, noch der Hitlerismus an sich wird es uns erklären, warum Auschwitz und Gulag zustande kamen.

In der gesellschaftlichen Moderne kann sich die politische Einbildungskraft alles vorstellen. Beide politischen Systeme entstanden in der Moderne. Die vormoderne Gesellschaft kannte vorwiegend die vererbte Monarchie mit guten Herrschern und schlechten Herrschern. Aber man konnte sich nicht auf die biologische Zufälligkeit berufen. In der Moderne gibt es kaum noch vererbte Monarchie. Jene Monarchien, die es noch gibt, verfügen nicht mehr über die ausreichende politische Macht. Aber es wurde möglich, einem einzelnen Menschen absolute Macht zu geben. Diese Institution wurde durch Lenin erfunden. Auf einem Parteitag 1902 arbeitete er das System des sogenannten demokratischen Zentralismus aus, ein Ein-Parteiensystem, wo alles vom Zentrum der Partei abhängt. Aber der Kopf des Zentrums ist der Führer. Dadurch ist die Partei totalisierst, sodass kein Pluralismus innerhalb der Partei geduldet wird. Pluralismus kann es in der Gesellschaft geben, nicht aber in der Partei. Wenn so eine Partei existiert, dann kann sie eine Position einnehmen, in der sie mit Hilfe der Führer einen ganzen Staat totalisiert. Man braucht eine totalitäre Partei um einen Staat zu totalisieren. Wenn der Staat totalisiert ist, dann wird politischer Pluralismus illegalisiert – „outlaw“, wie es im Englischen heißt. Aber dann ist man nicht mehr weit davon entfernt, die ganze Gesellschaft zu totalisieren. Und wenn das geschieht, wird innerhalb der Gesellschaft alle Pluralität illegalisiert. Das heißt, nur das ist erlaubt, was die Partei oder der Führer der Partei beschlossen haben. Alles andere ist verboten. Totalitäre Staaten und Gesellschaften haben immer eine Ideologie. Sie ist der zentrale Punkt, von dem aus gezeigt wird, wie die Totalisierung der Gesellschaft vor sich gehen soll. Dieser Punkt kann unterschiedlich sein, je nach dem ob es sich um den sowjetischen oder den nationalsozialistischen Typ des Totalitarismus handelt. Der nationalsozialistische Typ ging von einer rassistischen Ideologie aus. Illegalisiert bzw. nicht mehr als Staatsbürger anerkannt wurden Juden, Zigeuner und andere fremde Rassen, sowie all jene, die gegen dieses Regime und diese Ideologie waren. Auch in der Kunst hatte dieser national­sozialisti­sche Typ die rassistische Ideologie als zentralen Punkt angesehen. Als „entartete Kunst“ wurde jene Kunst verstanden, die nicht legalisiert war. Im sowjetischen Typ des Totalitarismus war der Staat offiziell nicht rassistisch, war keine „Rassenideologie“, sondern eine „Klassenideologie“. Mitglieder der sogenannten fremden Klasse wurden von allen Rechten ausgeschlossen. Wesentlich war aber das letztlich alle von allen Rechten ausgeschlossen waren, weil dieser Typ ein Terrorregime war.

Ich möchte die Verschiedenheit aber auch, was diese Typen eint, erörtern. Im Nationalsozialismus han­delt es sich um eine rassistische Diktatur. Vorrangig waren die Juden und andere Völker Zielscheibe des Massenmords. Aber auch im Sowjetkommunismus wurden Juden verfolgt – nicht aus rassischen, sondern aus religiösen Gründen. Warum aber gerade die Juden? Hitler wie Stalin glaubten beide an die Vergöttlichung des Menschen. Beide totalitären Regime sind atheistisch bzw. heidnisch, wie der Nationalsozialismus und seiner Verehrung der germanischen Götter, um so die christlich-jüdischen Tradition zu beenden. Stalins Regime war natürlich durchwegs atheistisch. Die Führer dieses Regime wollten selber Götter sein. Es ist das Wesen der totalitaristischen Regime, dass ihre Führer als Götter gesehen werden bzw. die Funktion eines Gottes einnehmen, als Statthalter der Götter fungieren.

Damit war auch eine Ideologie gekoppelt, die zwei Traditionen miteinander vereinte, die eigentlich nicht zu vermischen sind. Die eine Tradition geht auf die griechische Konzeption des Schicksals zurück. Das ist der Moment – „kairos“ auf Griechisch –, in dem man wählen muss, in dem wir Menschen es in unseren Händen haben, etwas jetzt oder nie zu tun. Das ist der Moment der Wahl. Die andere Tradition ist jene der Vorstellung der Apokalypse. Beide totalitären Regime haben beide Traditionen miteinander verknüpft, in dem sie meinten, durch ihre Ideologie die Apokalypse hier und jetzt oder nie herbeiführen zu können. Sie wähnten sich als Meister der Apokalypse, weil jetzt und hier oder niemals die Zeit dazu ist. Darin besteht eine weitere große Gemeinsamkeit des nationalsozialistischen und des sowjet-kommunistischen Typs des Totalitarismus. Die Verknüpfung dieser Traditionen haben Hitler und Stalin gemein.

Was ist Terror? Terror ist die Kombination von Furcht und Glauben. Ohne Glauben kann man keine Terroristen haben – ebenso wie Furcht, eine Folge des Schreckens, und Gewalt. Zur Gewalt benötigt man Furcht und auch Glauben. Wenn es keinen Glauben mehr gibt, kann man keine Gewalt ausüben, kann man keine Furcht haben. Darin besteht eines der Geheimnisse der totalitären Regime. Es ist die Furcht, warum sie zittern und dieses Zittern hängt mit dem Glauben zusammen. Jene, die im Sowjet-Regime aufgewachsen sind, wissen ganz genau, was das heißt: je mehr die Menschen glauben, desto mehr fürchten sie sich und je mehr sie sich fürchten desto mehr glauben sie. Wenn sie Menschen sehen, die Stalin oder Hitler zujubeln, dann glauben sie auch tatsächlich, was sie sagen uns sie glauben, was sie sagen, weil sie sich fürchten. In dem Augenblick als das totalitäre Regime zusammenbrach, verloren die Menschen ihre Furcht. Und zusammen mit der Furcht verlieren sie auch den Glauben. Aber sie sagen dann auch, dass sie nie an das Regime geglaubt haben, dass sie ja nie wirklich daran beteiligt waren und wenn, dann, weil es alle anderen auch taten oder weil es mir einfach befohlen wurde. Und tatsächlich vergessen viele, dass sie an das Regime geglaubt haben. Sie vergessen aber dabei sich selbst, weil sie ihre Geschichte teilweise vergessen. Sie vergessen sich selbst, nicht nur weil sie auf etwas anderes, was sie auch sind, hinweisen wollen oder davon ablenken wollen was sie waren und was sie taten, sondern weil sie eigentlich dadurch aufrichtig sein wollen: Sie vergessen sich selbst und alles, was mit ihnen zusammenhängt. Sie vergessen, woran sie glaubten, weil sie sich eigentlich fürchteten. Und weil sie die Furcht verloren haben, haben sie auch den Glauben verloren. Dieses Phänomen ist auch umkehrbar: Sobald die Furcht wieder aufkommt, kommt auch der Glaube wieder auf. Wenn in den Menschen wieder die Furcht einfließt, dann werden sie auch wieder anfangen, den verschiedenen Diktaturen zu glauben.

Der pervertierte Verstand totalitärer Regime

Die andere Frage, die noch zu stellen ist lautet: Wie war es möglich, dass Menschen dazu bereit waren? Was steckt im Menschen, dass er bereit ist andere Menschen im Ausmaß von Hunderttausenden zu töten? Wenn man dabei nur an unsere schlechten Instinkte denkt, dann kann man sagen, durch einen schlechten Instinkt ist der Mensch prinzipiell zum Töten fähig bis zu hundert Menschen. Aber alle Pogrome und Massenvernichtungen der totalitären Regime zeigten, dass die Menschen ab einem bestimmten Ausmaß an Tötungen ermüden. Es fließt dann zu viel Blut. Das Blut von Millionen von Menschen ist nicht überschaubar. Hier tötet der Mensch nicht mehr aufgrund seiner schlechten Instinkte. Millionen Menschen zu töten übersteigt einfach seine schlechten Instinkte. Millionen Menschen zu töten, dazu ist nur die pervertierte Vernunft im Stande. Der pervertierte Verstand ist ein Typ der rationalen Erörterung, der rationalen Argumentation, die uns die logischen Gründe zeigt, warum massenhafte Vernichtung notwendig ist und wenn sie so wollen, gut oder richtig ist. Zu dieser Motivation benötigt man nicht mehr den Instinkt, sondern die ratio, weil unsere Instinkte dafür nicht ausreichen.

Wie aber arbeitet der pervertierte Rationalismus? Adorno und Dostojewski haben darüber auch schon viel gesprochen und mit diesem Rationalismus ist es nicht so einfach, wie man annimmt: Hier haben wir die 10 Gebote, die wir tagtäglich verletzen. So verletzt man auch das Gebot „Du sollst nicht töten!“ Aber die meisten Menschen, die töten, wissen, dass sie etwas Falsches getan haben. Sie können sich selbst erörtern, sie können sich selbst einreden oder begründen, dass es notwendig war und dass sie nichts anderes tun hätten können. Aber die wenigsten werden sagen, dass es richtig, dass es Recht war zu töten oder dass sie dadurch etwas Gutes getan haben. Sie werden sagen, dass sie es getan haben, weil sie sonst selber oder jemand aus ihrer Familie getötet worden wären. Sie werden nie sagen, dass es prinzipiell korrekt war. Um so etwas sagen zu können braucht man eben eine Ideologie, die dieses Töten zu einem Gut macht, eine Ideologie die unsere Vernunft so pervertiert, dass das Töten als etwas Richtiges erscheinen lässt. In dieser Ideologie ist Mord nichts Schlechtes. Im Gegenteil: Morden ist etwas Gutes. Daher sollt ihr Morden. Genau das sagte Heinrich Himmler in einer seiner berühmten Redem an die Waffen-SS: „Ich warne euch! Widersteht dem natürlichen Gefühl des Mitleids. Ihr sollt Töten!“ Mitleid ist also zu vermeiden, weil die natürliche Anziehungskraft des Mitleids das Schlechte im Menschen ist. Darin also besteht der pervertierte Verstand, wenn Töten nicht die Ausnahme menschlich vernünftigen Handelns – um etwa jemanden oder sich selbst zu schützen – ist, sondern, wenn sie zur Regel erklärt wird und die Ausnahme das Mitleid ist. Man verkehrt diese Vernunft. Bereits Immanuel Kant hat in die „Verkehrung der Reihe der Maxime“ erkannt, dass der Mensch verschiedenen Maximen folgt: guten, schlechten, schönen, angenehmen, unangenehmen, nützlichen und nicht nützlichen. Diese Maxime haben aber eine Hierarche. Wenn man diese Hierarchie verwechselt und der höchste Punkt der Hierarchie nicht nach gut und böse differenziert wird – aber auch die anderen Maxime indifferent bleiben, das ist das Böse, dann ist diese Hierarche verändert und diese Vernunft pervertiert. Wir müssen zuerst bestimmen, wofür wir uns entscheiden, ob für das Gute oder Böse, dann daran denken, ob es angenehm oder unangenehm oder etwas anderes ist. Aber die totalitären Regime gehen weiter: Sie sagen, wir können bestimmen, was gut und böse ist, nur was die anderen als gut annehmen ist schlecht und was bisher als schlecht galt ist gut. Totalitäre Regime verkehren nicht nur die Hierarchie der Maxime, sondern auch das Verhältnis von gut und böse. Darüber hat auch Thomas Mann 1944 in seiner berühmten Novelle „Das Gesetz“ geschrieben. Es ist eine Geschichte über Moses und den 10 Geboten, in der Gott eben dann sagt, dass er weiß, dass seine Gebote immer wieder verletzte werden, aber wehe dem, der sagt, dass sie nicht gültig sind. Genau das sagen die totalitären Regime: Sie sagen nicht, man kann sie verletzen, sondern sie sprechen ihnen prinzipiell die Gültigkeit ab. Aber das können sie eben nur sagen, weil sie sich an die Stelle Gottes begeben. Alle totalitären Diktatoren nehmen den Platz Gottes ein und können daher behaupten, dass die göttlichen Gesetze nicht mehr gültig sind.

Die Aporie des Verzeihens

Ich komme zum letzten Punkt meines Vortrags, der nochmals auf den Titel „Vergessen und Verzeihen“ Bezug nimmt. Was können wir verzeihen, was können wir vergessen? Wir müssen unterscheiden zwischen dem, was uns persönlich angetan wurde und dem, was anderen angetan wurde. Was uns angetan wurde, können wir ohne alles gleich verzeihen. Jesus Christus sagte, dass wir verzeihen sollen, was uns angetan wurde. Die Frage ist, ob wir das Recht dazu haben, zu verzeihen, was anderen angetan wurde. Gibt es ein Recht zu verzeihen, dass mein Vater in Auschwitz ermordet wurde? Ich wurde einmal von jemandem angerufen, der von meinen Beobachtungen der Geheimpolizei in Ungarn beeindruckt war und er sagte, dass es ihm Leid tue und er bat mich um Verzeihung. Ich sagte, ja natürlich verzeihe ich ihnen. Wenn man sagt, ich  schäme mich, was ihnen angetan wurde. Die Frage ist, was ist unser Recht? Nur die Toten können ihren Tätern verzeihen, wenn sie dazu im Stande wären. Ich, der ich am Leben geblieben bin, habe nicht das Recht im Namen der Toten den Tätern zu verzeihen. Aber darin besteht die Aporie des Verzeihens, dass ich nicht für andere sprechen kann, schon gar nicht, wenn sie nicht mehr am Leben sind.

Wie sieht das für die zweite Generation aus? Die Kinder der Täter sind keine Täter mehr. Sie haben nichts getan. Daher gibt es gegenüber den Kindern der Täter auch nichts zu verzeihen. In der zweiten Generation gibt es keine Täter, sehr wohl gibt es aber in der zweiten Generation noch Opfer. Die Kinder der Opfer sind auch Opfer, während die Kinder der Täter keine Täter mehr sind. Die Kinder der Opfer sind Opfer, wenn ihr Vater, ihre Mutter, ihre Geschwister, ihre Verwandten getötet wurden, wenn sie ihr Land verloren haben. Dann haben sie ihre Lebensform verloren, ihr Haus, ihr Hab und Gut, wurden in ein anderes Land gebracht oder sind in einem anderen Land geboren. Diese Kinder sind noch immer Opfer. Menschen, die durch diese Trauma gegangen sind, wissen, dass sie von dienen Traumata nie geheilt werden. Sigmund Freud hatte recht, dass Traumata nicht heilbar sind, sondern nur vermindert werden können. Wenn darüber erzählt wird und dadurch, sie auszusprechen. Das erleichtert die Traumata, die jedoch in der Psyche haften bleiben. Die nächste Generation erbt diese Traumata, was Psychologen und Therapeuten bereits festgestellt haben. Väter und Mütter, die durch ein Trauma durchgegangen sind und ein Trauma-Erlebnis hatten, beeinflussten damit auch ihre Kinder. Das kann bis über 3 bis 4 Generationen weitervererbt werden. Ob die Kinder verzeihen können, die ein Trauma-Erlebnis von ihren Eltern erbten, ist auch problematisch. Denn wenn sie verzeihen, bleibt die Frage, ob sie es auch vergessen können.

Es gibt zwei Typen des Vergessens: das erste Vergessen und das zweite Vergessen. Wenn Sie von jemanden beleidigt werden und er dann sag: „Bitte vergessen Sie es!“, sagen Sie, ja ich habe es schon vergessen. Vergessen ist aber weniger als Verzeihen, denn wenn man sagt „Ich habe es vergessen“, sagt man eigentlich auch, dass es nie passiert ist: „Vergessen wir es, es ist nie passiert“. Das heißt, zwischen uns ist die Situation geklärt, wir haben einander nichts mehr vorzuwerfen. Es ist vergessen. „Verzeihen“ ist etwas ganz anderes: Wenn man sagt, nur das Unverzeihbare kann man verzeihen, dann ist „Verzeihen“ mehr als „Vergessen“. Man verzeiht nur das Unverzeihbare, weil das Verzeihbare kann ohnehin vergessen werden, das Verzeihbare braucht nicht (nochmals) verziehen werden. Verzeihen selbst ist eine Aporie. Worin besteht diese Aporie des Verzeihens? Sie besteht darin, dass Gerechtigkeit und Vergebung eigentlich einander widersprechen. Wir brauchen Gerechtigkeit. Aber sobald man verzeiht, gibt es keine Gerechtigkeit mehr. Wenn man Gerechtigkeit will, dann kann nicht verziehen werden. Nur das Unverzeihbare kann verziehen werden, heißt, dass man verzeiht, was eigentlich durch Gerechtigkeit wieder hergestellt werden sollte, was aufgrund der Gerechtigkeit bestraft werden sollte. Diese Art von Verzeihung, diese höchste Art von Verzeihung besteht darin, wenn man verzeiht, was unverzeihbar ist. Es ist eine Verzeihung, die auf Versöhnung abzielt. Man gibt die Motivation der Vergeltung und der Rache auf und gibt damit auch Bilder der Gerechtigkeit auf. Man gibt die Rache auf und die Versöhnung ist da. Man versöhnt sich jedoch mit der Gegenwart und nicht notwendigerweise auch mit der Vergangenheit. – Es ist eine Versöhnung mit der Wirklichkeit. Wichtig ist, aber, dass die Versöhnung mit der Gegenwart nicht ident ist mit der Versöhnung mit der Vergangenheit. Würde man sich mit der Vergangenheit versöhnen, dann würde das Übel nie zu einem Ende kommen, deshalb kommt es ja auch nicht zu ihrem Ende. Aber wir sollten nicht dazu auch noch beitragen, indem wir uns mit der Vergangenheit versöhnen.

Das Wort als Ort der Erinnerung

Woran erinnern wir uns in der Vergangenheit? Wir erinnern uns an uns selbst in der Vergangenheit. Ich habe diesen Artikel von Aleida Assmann, in dem sie über die Möglichkeiten des Gedenkens sprach. Sie meinte, dass es vor allem Orte sind, die uns an Vergangenes erinnern. Sie sprach von Orten des Gedächtnisses. Dem möchte ich entgegnen, dass die Orte der Erinnerung und des Gedächtnisses die Wörter des Ortes selbst sind. Ich glaube kaum, dass der Ort, an dem ein Konzentrationslager stand, tatsächlich der Ort der Erinnerung ist. Ich glaube auch nicht, dass der Platz, an dem ein Mahnmal errichtet wir, der Ort der Erinnerung ist, sondern dass es das Wort des Ortes ist. Das Wort ist der Ort der Erinnerung. Wenn ich sage „Auschwitz“, dann kann ich nichts Stärkeres sagen, denn „Auschwitz“ und auch „Gulag“ sind zu Symbole geworden, die sich nicht nochmals oder durch etwas anderes symbolisieren lassen. Ebenso ist der Begriff „Golgatha“ oder der Begriff „Sinai“ schon zu so einem Symbol geworden sind, von dem man erst gar nicht wissen muss, wo, in welchem Land der Erde sie liegen oder lagen, wo genau der Ort ist, der dieses Ereignis symbolisiert. Der genaue Ort dieses Ereignisses ist also das Wort, das ist der Begriff selbst. Das Wort ist somit auch der Ort der Erinnerung. Und darüber kann man auch keine Gedichte schreiben, nicht einmal ein Gedicht darüber dass man nach Ausschwitz kein Gedicht mehr schreiben kann, weil kein Gedicht zu symbolisieren vermag, was das Wort „Auschwitz“ schon symbolisiert. Die Wörter sind die Symbole selbst und ein Symbol lässt sich nicht nochmals symbolisch höher ausdrücken.

Gesamter Vortrag als Download…hier